Hameln
Erste Kontrolle um 6 Uhr, Netflix ist tabu: So sieht der Alltag in Deutschlands größtem Jugendgefängnis aus
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Ein junger Häftling steht in seiner Zelle in der Jugendanstalt Hameln.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
In Deutschlands größtem Jugendgefängnis in Hameln sind noch Zellen frei. Zuletzt mussten allerdings die Plätze in der Untersuchungshaft aufgestockt werden. Wie sieht der Alltag der Insassen aus?
Hameln. Draußen haben sie Regeln und Vorschriften missachtet, Drogen und Gewalt gehörten für die meisten zum Alltag. Jetzt verbringen die 14- bis 23-Jährigen viele Stunden eingesperrt. 387 Jugendliche und junge Männer sind derzeit in der Jugendanstalt Hameln inhaftiert, dem größten Jugendgefängnis in Deutschland. Die Anstalt zwischen Feldern nahe der Weser ist von hohen Mauern umgeben, die zusätzlich mit Metallgittern und Stacheldraht gesichert sind. Alle Fenster sind vergittert, alle Türen abgeschlossen.
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661 Haftplätze gibt es in dem zentralen Jugendgefängnis für Niedersachsen. Jahrelang ging die Jugendkriminalität und damit auch die Zahl der in Hameln Inhaftierten zurück. Der Tiefstand lag bei rund 320 Gefangenen vor Corona. Seit 2022 steigt die Zahl wieder.
Bundesweit haben zuletzt mehrere Gewaltverbrechen von Teenagern für Entsetzen gesorgt. Ein inzwischen 15-Jähriger, der in Salzgitter mit einem 13-Jährigen eine Mitschülerin ermordet hat, sitzt in Hameln eine achtjährige Jugendstrafe ab. In der Untersuchungshaft ist ein Achtklässler aus Wunstorf untergebracht, der Anfang Mai wegen Mordes an einem 14-Jährigen angeklagt wurde. Im Fall der getöteten Luise aus Freudenberg in Nordrhein-Westfalen waren die 12 und 13 Jahre alten Täterinnen noch nicht einmal strafmündig.
Mehr junge Häftlinge
Steigt die Zahl der besonders jungen Häftlinge? „Wir haben seit 2022 mehr 14-Jährige und 15-Jährige, aber es ist noch zu früh, darin einen Trend zu sehen“, sagt Hamelns Anstaltsleiter Wolfgang Kuhlmann. Dazu seien auch die absoluten Zahlen zu gering. Derzeit sitzen ein 14-Jähriger sowie 13 Jugendliche im Alter von 15 Jahren und 14 im Alter von 16 Jahren in dem Gefängnis.
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Ein Justizbeamter steht im Innenhof der Jugendanstalt Hameln.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
Lange reichten die 62 Plätze in der Untersuchungshaft der Jugendanstalt aus, jetzt wurde sie auf 92 Plätze aufgestockt. „Weil in der U-Haft mehr Jüngere sind, hat eine Psychologin sie dort besonders im Auge“, sagt Kuhlmann. „Sie holt sie aktiv zu Gesprächen und kümmert sich um Sorgen und Probleme der jungen Inhaftierten.“
Wer hier in der U-Haft landet, steht im dringenden Verdacht, schwere Straftaten begangen zu haben. Es sind männliche Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren. Auf 10 Jahre beläuft sich die Höchststrafe für Jugendliche, für Heranwachsende auf 15 Jahre. Durchschnittlich verbüßen die Inhaftierten in Hameln Jugendstrafen von 1,9 Jahren. Rund 60 Prozent haben Gewaltdelikte verübt.
Was sind die Ursachen?
Bundesweit stieg 2022 innerhalb eines Jahres laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) die Zahl der 14- bis 18-jährigen Tatverdächtigen um 22,1 Prozent auf gut 189 000. Bei den unter 14-Jährigen war es sogar ein Anstieg um 35,5 Prozent auf rund 93 000.
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„Wir müssen ganz dringend auf krisenhafte Entwicklungen bei jungen Leuten schauen, dazu gehören auch Straftaten“, sagt die Rechtswissenschaftlerin Theresia Höynck. Kinder- und Jugendkriminalität ist ein Schwerpunkt der Professorin an der Universität Kassel. Seit 2008 sei die Jugendgewalt zurückgegangen, auch durch Prävention an Schulen.
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Blick in eine Gefängniszelle der Jugendanstalt Hameln. Wer hier landet, hat schwere Straftaten begangen. Die Täter sind im Alter von 14 bis 21 Jahren.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
Der jetzt zu beobachtende Anstieg der jungen Tatverdächtigen könne mit den Erfahrungen von Corona und der allgemeinen Verunsicherung der Welt zu tun haben, also auch Ukraine-Krieg und Klimakrise, sagt Höynck: „Eine sichere Struktur von ansprechbaren Erwachsenen ist für viele Kinder und Jugendliche nicht da.“ In Schule und Jugendhilfe sowie in der Familie stoßen die jungen Menschen auf gestresste, überlastete Erwachsene.
Inhaftierte kommen aus zerbrochenen Familien
Ein Großteil der Gefangenen in Hameln kommen laut Anstaltsleiter Kuhlmann aus zerbrochenen Familien, viele haben selbst Gewalt erlitten. In einer anonymen Übung in Schulkursen wurden die Häftlinge gefragt, was sie am meisten vermissten: 11 von 21 sagten „Familie/Mutter/Geschwister“, 5 nannten „Freunde/Freundin“, vier „Körperliche Nähe/Kuscheln“ und nur 2 das Handy.
Die Besuchszeit in der Strafhaft ist auf sechs Stunden pro Monat beschränkt. Zusätzlich können sogenannte Langzeitbesuche von mehr als vier Stunden beantragt werden. Die sechs Stunden würden aber in so gut wie keinem Fall ausgeschöpft, sagt Kuhlmann.
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Ein junger Häftling sortiert Kreide im Arbeitsbereich der Jugendanstalt Hameln.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
Die Eingewöhnungszeit im Knast kann dauern. Gerade die Jüngeren begriffen am Anfang nicht unbedingt den Ernst der Lage und seien aufgekratzt wie auf einer Klassenfahrt, berichtet Dietmar Müller, Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit der Jugendanstalt.
Beim Antritt der regulären Haft wird für jeden Insassen ein Erziehungs- und Förderplan aufgestellt, der alle vier Monate überprüft und angepasst wird. Potenziell gefährliche Straftäter müssen eine Sozialtherapie machen, zudem werden ein Schulabschluss oder eine Berufsausbildung geplant.
In der Haft gibt es eine Schul- und Arbeitspflicht
„Der Förderbedarf ist sehr groß“, sagt Melanie Scharner, Oberlehrerin im Justizvollzugsdienst. Viele seien vor der Inhaftierung nicht mehr regelmäßig zur Schule gegangen. In der Haft gibt es eine Schul- und Arbeitspflicht. Wer sich weigert, büßt einen kleinen Geldbetrag für Telefon, Zigaretten oder Süßigkeiten ein. Zudem wird als erste Sanktion der Fernseher aus der Zelle entfernt, mit dem mehrere Programme analog geschaut werden können. Unter anderem Netflix, Playstation, Smartphone, Internet und Alkohol sind tabu.
Die jüngsten Gefangenen bilden keine eigene Gruppe. Vielmehr sind die Insassen in Wohngruppen in verschiedenen Häusern eingeteilt - entsprechend ihrer Bereitschaft, sich zu verändern und mitzuarbeiten.
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Auch in der U-Haft sind die Jugendlichen verpflichtet, an Arbeit oder Bildung teilzunehmen. Im Produktionsbetrieb sortiert eine Gruppe Kreide nach Farben und verpackt sie in Kartons. Die Jugendlichen tragen die blauen Anstaltshosen und -kittel. Der Besuch eines Fotografen ist eine willkommene Abwechselung. Die Jungs machen Sprüche und albern herum.
Alltag ist durchgeplant
Der Alltag in Deutschlands größtem Gefängnis für Jugendliche und Heranwachsende ist komplett durchgetaktet: Der Tag beginnt um 6 Uhr mit der sogenannten Lebendkontrolle - das Personal schaut, ob jeder Gefangene am Morgen gesund ist. Um 7 Uhr steht das „Ausrücken“, in den gefängniseigenen Arbeits- oder Ausbildungsbetrieb an. Die Schüler werden für den Unterricht um 7.45 Uhr aus ihren Zellen geholt. Freizeitangebote unter Aufsicht - Sport, Musik, Kunst - aber auch Fördermaßnahmen gibt es ab 16 Uhr, um 19 Uhr werden alle wieder in ihren Zellen eingeschlossen.
In Haus 3 sind die Totalverweigerer untergebracht, die jegliche Mitwirkung an Therapie, Bildung und Arbeit ablehnen. Rund zehn Prozent der Gefangenen nehmen laut Kuhlmann keinerlei Angebote wahr.
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Stühle stehen in einem Schulraum der Jugendanstalt Hameln.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
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Bei vielen komme jedoch irgendwann die eigene Motivation, die Zeit zu nutzen. Wenn das Verhalten stimmt, können die jungen Männer auf Antrag an Sportgruppen wie Volleyball, Tischtennis oder Fußball teilnehmen. Auch politische Bildung steht auf dem Programm. 15 Häftlinge wurden zum Beispiel zu sogenannten Peer Guides ausgebildet und führten im Oktober interne und externe Gruppen durch eine Wanderausstellung über das jüdische Mädchen Anne Frank. Ende 2022 nahmen acht von elf Teilnehmern des Realschulkurses ihr Abschlusszeugnis in Empfang.
Viel Zeit verbringen die Häftlinge in ihren schmalen Zellen, die kleiner als die meisten Kinderzimmer sind. Ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch und Stuhl sowie ein Fernseher befinden sich darin, zudem hat jeder eine Nasszelle mit Toilette. Ein Insasse hat ausgedruckte Fotos seiner Freundin an die Wand geklebt. In einer anderen Zelle liegt ein Roman aus der Anstaltsbibliothek. „Hier wird mehr gelesen als von derselben Altersgruppe draußen“, sagt Dietmar Müller.
HAZ